Mittwoch, 22. März 2017

Aufklärung

An Frau Dr. med. A.- K. Schmidt , Dr. med. K. Weber

Guten Tag.
Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht wirklich, wie ich anfangen kann.
Ich möchte Ihnen mit diesen Zeilen gerne bewusst machen, was derzeit in mir vorgeht.
Wie Sie wissen, bin ich 19 Jahre alt, habe Adipositas, eine Doppelniere und all die anderen, unschönen Dinge, die Sie mir bei jedem Aufenthalt wieder bewusst machen. Mir bewusst machen, wer ich eigentlich bin. Jemand, der sich unverstanden fühlt. Unverstanden in Anbetracht dessen, dass Sie Ihr Gespräch mit mir mit den Worten „aber für 50% bist du halt leider viel zu fit“ abschließen wollen. Was würde mir auch anderes übrig bleiben, als Ihre Meinung zu akzeptieren. Denn wer sollte mich besser kennen als all die Menschen, die mich zurzeit einmal im Jahr zu Gesicht bekommen? Wer sollte besser verstehen können, dass ich unter meiner eigenen Freizeit zusammen breche? Dass ich herausfinden musste, dass ich wahrscheinlich niemals fähig sein werde, eine Vollzeitstelle anzunehmen, ohne in Depressionen zu verfallen, weil Ich dem nicht stand halte. Ja, wie sollten Sie dies auch in all Ihrem Stress erkennen können. Ihre Tests laufen ein paar Minuten, eine halbe Stunde, oder vielleicht eine Stunde und dann bekomme ich eine Pause. Bekomme ich im wirklichen Leben eine Pause? Eine Auszeit vom Leben? Nein.
Sie etwa? Ich nehme an, Ihre Antwort wird die Selbe sein.

Vor knapp vier Jahren wurde ich in der Klinik operiert, für die Sie arbeiten. Ich bin all den Ärzten sehr dankbar dafür, dass sie es geschafft haben, einen Teil von meinem Tumor zu entfernen und zu schaffen, was zwei andere Kliniken für fast Unmöglich hielten. Es zu schaffen, dass ich auch ohne Tabletten keine epileptischen Anfälle mehr haben werden. Sie haben das Unmögliche möglich gemacht. Und jetzt? Jetzt ist das Grobe ja geschafft, nicht wahr? Also warum nicht einfach dankbar sein. Ich habe anerkannte 30% Behinderung. Wissen sie, was mir das bringt? Nichts. Ein versuchtes, verständnisvolles Nicken von all jenen, denen ich davon erzähle. Ich bekomme nicht mal einen Ausweis dafür, wenn ich auf ein Konzert oder eine öffentliche Vorstellung gehen möchte, damit auch fremde Menschen mir glauben, dass ich WIRKLICH ein Handikap habe. Diese 30% sind dafür, was ich an manchen Tagen durchmache, ein Witz.

Kennen Sie das, wenn sie sich von Ihren Freunden abkapseln, weil sie wissen, dass Sie ihnen niemals gerecht werden könnten? Nicht etwa, weil sie zu langweilig sind. Nein. Weil sie merken würden, wie deprimiert man selbst ist, wenn man realisiert, dass man noch nie eine wirkliche Jugend hatte. Alles an einem vorbei gezogen. Und eben weil ich ja in Ihren Augen so fit bin, realisiere ich das alles. Ich merke, wenn ich überflüssig werde. Ich merke, dass das Mitleid in Ihren Augen, wenn Sie mir sagen, dass ich zu keiner Welt dazu gehöre, kein echtes  Mitleid ist. Ich weiß, zu was ich im Stande bin. Aber nur, weil ich meine Augen gut verdrehen, meine Backen aufblasen und meine Zähne zeigen kann, heißt das nicht, dass ich 10 Stunden Dienste überstehe. Das heißt nicht, dass ich nach einem 8 Stunden Dienst noch fähig bin etwas mit meinen Freunden zu unternehmen. Ich würde gerne. Aber die Realität holt mich ein und mein Kopf  macht mir klar, dass ich dazu nicht mehr im Stande bin. Und ich enttäusche sie immer wieder aufs Neue. Das ist mir bewusst und es tut mir so leid.

Ich weiß, wie normal ich auf Sie wirke, wenn ich auf dem Stuhl vor Ihnen sitze und sage, dass ich keine Anfälle mehr habe und wieder mal eine Ausbildung machen möchte. Sie denken sich dann bestimmt ; ja, sie scheint normal zu sein, die Anderen brauchen mehr Hilfe und Anspruch.
Brauchen sie auch. Das schließt dennoch nicht aus, dass in mir drinnen nicht alles so normal ist, wie es von Außen scheint. Sie schreiben, dass man im EEG genau erkennen kann, dass wenn ich wach bin, die rechte Seite meines Gehirns nicht so schnell ist, wie die Linke. Wissen Sie, wie lange ich gebraucht habe, all die Namen der Bewohner zu kennen, die ich derzeit betreue? Wissen Sie, dass ich solch eine panische Angst vor dem Vergessen habe, dass ich alle Erinnerungen die ich greifen kann, sofort aufhebe und in einer Box aufbewahre? Wissen Sie, wie es sich anfühlt, in keiner Welt als Normal zu gelten? Denn sobald ich dieses Krankenhaus verlasse, in dem ich für Sie als „zu fit“ gelte, trete ich zurück in mein Leben, in dem ich nicht normal sein kann, weil ich nicht als vollwertiger Mensch funktioniere. Ja, ich fühle mich so wie ich bin, nicht als vollwertiger Mensch. Und ich brauche Hilfe, um ein richtiges Leben zu führen und das weiß ich.
Wieso erkennt ihr System nicht auch das, was nicht offensichtlich ist?
Ich bin stolz darauf, es geschafft zu haben. Stolz darauf, mich irgendwie durch das Leben zu schleppen. Aber schleppen ist nicht leben.



Und hat leben nicht jeder von Uns verdient?