Montag, 2. Juni 2014

Ich danke Ihnen, dass sie sich die Zeit genommen haben, diesen Text beziehungsweise diesen Brief, oder wie man es auch nennen mag, zu lesen.
Sie haben keine Ahnung, was ich alles gesehen habe und wenn ich so überlege, denke ich, dass sie es selbst niemals sehen wollen.  Meine Noten sind schlecht, das weiß ich, aber ich bin es nicht. Dass das keine Rolle spielt und erst Recht nichts mit meiner Versetzung zu tun hat, ist mir bewusst. Aber ich denke, dass ich mich wenigstens für all das rechtfertigen möchte, denn dumm bin ich nicht.
Sagen sie mir aber bitte, wie sie sich nach dem, was ich erlebt habe, verhalten und fühlen würden.
Es ist nicht so, dass mich die Schmerzen die ich hatte, traumatisiert haben, wirklich nicht. Es ist eher so, dass das,  was ich gesehen habe, mich nicht mehr loslässt. „Körperliche Schmerzen werden vergehen, seelische Schmerzen werden dich dein Leben lang verfolgen.“ Denken sie über diesen Satz nach, er stimmt.
Wissen sie noch, wie sie ihren fünfzehnten und sechzehnten Geburtstag gefeiert haben? Ich schon. Meine fanden im Krankenhaus statt. Ich habe gesehen, wie Kinder vor Angst schreien. Sie haben nicht die Probleme, die man in dem Alter haben sollte. Sie haben angst davor, was als nächstes passiert und wenn man ihre Eltern sieht, erkennt man, wie sehr auch sie leiden.
Als ich nach meiner OP zum ersten Mal wieder laufen durfte, habe ich mich im Spiegel betrachtet. Dies sind Bilder, die ich nie wieder aus meinem Kopf bekommen werde. Meine rechte Gesichtshälfte war komplett zugeschwollen, ich konnte nur noch mit dem linken Auge sehen. Ich sah nur das riesige Pflaster an meinem Kopf und die Schläuche und Kabel, die an mir runterhingen.
Vor meiner Operation wurde einem kleinen Jungen, er war vielleicht neun Jahre alt, seine Klammern von seiner Operation aus seinem Kopf gezogen. Er hat geschrien. Laute, die ich nie wieder vergessen werde. Heute weiß ich, dass er nicht vor Schmerzen geschrien hat. Es schmerzt nicht wirklich, wenn man seine Klammern gezogen bekommt. Sein Schrei war ein Hilferuf aus purer Angst.
Jedes Mal, wenn ich meinen Kopf, meine Gedanken zwingen möchte, ein Bild zu visualisieren, kommt nicht das, was ich erreichen möchte. Ich sehe nicht den Englischtext, an dem ich gearbeitet habe. Ich sehe auch nicht die Französisch Vokabeln, die ich stundenlang gelernt habe. Ich sehe die Kinder, und mich. Mich in diesem Spiegel. Wie ich mich in diesem Spiegel betrachte und die Schreie des Jungen, sie kommen. Meine Narbe pocht und es ist, als wöllte sie mir etwas mitteilen. Lasse ich meine Gedanken allerdings schweifen und Bilder tauchen von alleine auf, kann ich stundenlang darüber nachdenken. So geht es mir zum Beispiel im Deutsch- und Ethikunterricht. Ich muss nicht wirklich nachdenken. Meine eigene Meinung zu der Sache und meine persönliche Interpretation reichen aus.
Ich möchte kein Mitleid von ihnen und noch weniger verlange ich, dass sie mich verstehen, denn das können sie nicht. So gesehen möchte ich mir selbst wenigstens die Chance geben, zu erklären, weshalb ich so abschneide. Den Stoff, den sie uns versuchen beizubringen, verstehe ich. Allerdings vergesse ich ihn schnell wieder und meistens mache ich mir mehr Gedanken darüber, weshalb sie uns das eigentlich beibringen. Allgemeinbildung. Ein Wort, das ich immer wieder gehört habe. Ich habe bis heute nicht verstanden, was ihr uns wirklich damit sagen wollt. Sie etwa? Ich nicht.
Meine Gabe liegt nicht unbedingt darin, Menschen persönlich mein Empfinden und meine Gefühle zu erzählen, weshalb ich lieber auf andere Varianten, wie diese hier, zurückgreife.  
Ich danke ihnen, dass sie sich die Zeit genommen haben, dies hier zu lesen.